Der Magdeburger Rapper Niggsen teilt mit seinen Texten häufig in alle Richtungen aus. Doch nicht immer handelt es sich dabei um rhetorische Backpfeifen.
Text: Moritz Beasley

Altbauten, Cafés, kleine Läden, Spätis – Stadtfeld hat etwas von einem Kiez, der lebt und atmet. Wer durch die Straßen geht, könnte fast an Friedrichshain oder Kreuzberg denken. Zwischen den Fassaden blitzt Graffiti hervor – an manchen Ecken noch knallbunt, an anderen nur noch als Schatten unter neuer Farbe sichtbar. An einem frühen Sonntagnachmittag kann ich mir mal wieder selbst ein Bild davon machen. Ich laufe mit dem Magdeburger Rapper Niggsen durch die Straßen – auf der Suche nach einem Feuerzeug für seine frisch gedrehte Kippe. Planlos wirkt unser Weg, doch genau daraus ergibt sich eine Leichtigkeit, die sich auch in seiner Musik spiegelt: mal klassisch im Boom-Bap-Sound, mal getragen von modernen, basslastigen Produktionen – immer mit offenem Ohr für neue Einflüsse. Seine Tracks sind so vielseitig wie das Viertel, durch das wir gehen: kantig, spontan und doch unverwechselbar.
Obwohl er erst seit gut einem Jahr in Stadtfeld wohnt, ist er schon angekommen. Er grüßt Bekannte, kennt die kleinen Läden, weiß, wo es den besten Kaffee gibt. Bald will er hier zusammen mit Kollegen ein eigenes Studio beziehen. „Bis jetzt war mein Kinderzimmer quasi mein Studio. Jetzt hat man sich halt einen extra Raum geholt, damit man das professioneller machen kann. So ist es wie ein Arbeitsplatz und man nervt niemanden“, sagt er. Ein großer Schritt für den Musiker, der sich erst seit drei Jahren selbst so bezeichnet.
Seine Biografie ist typisch für jemanden, der mit HipHop groß geworden ist. Beim Chillen mit den Bros laufen Beats, irgendwann ist einer mutig genug und fängt an darauf zu rappen. In seiner Gruppe war Niggsen dieser Jemand. „Ich habe nebenbei meinen Text aufgeschrieben. Meine Kumpels sind dann irgendwann nach Hause gegangen, und ich saß noch bis nachts da und habe das Ding fertiggemacht. Ich habe gemerkt, dass es super viel Spaß macht und hatte auch das Gefühl, dass ich es ganz gut konnte.“

An seinem 18. Geburtstag veröffentlichte er dann seine ersten Songs auf Spotify – „Zeitdruck“ und „YUH“ – ein Geschenk an sich selbst sozusagen. Das war 2022. Seitdem hat er sich zumindest in Magdeburg einen Kultstatus erarbeitet: Zahlreiche Auftritte als Voract und Headliner, ein Konzert in Luises Garten, bei dem er sogar das Line-up selbst kuratieren durfte. Und er hat schon Hardcore-Fans: „Es gibt einen Atzen, der ist noch so fünfzehn, der ist immer bei meinen Konzerten, bringt seine Freunde mit und kennt meine Texte gefühlt besser als ich. Es ist irgendwie surreal, dass sich jemand so mit mir verbunden fühlt, obwohl er mich nur durchs Internet kennt.“
Trotz der Liebe, die er von der hiesigen Szene bekommt, ist er unzufrieden: „Ich finde, ich habe schon sehr viel gemacht, was nicht so krass belohnt wurde. Es gehört halt mehr dazu, als nur gute Musik zu machen. Ein bisschen Connection und Glück gehören eben auch dazu“, erklärt der MC, der seit seinen ersten Releases die hässlichen Seiten des Business Musik nur allzu gut kennengelernt hat. Hier gab es ein langes Gespräch mit einem A&R, dort ein paar verschickte Song-Skizzen. Bisher kam dabei nie etwas heraus außer leeren Versprechen, blauen Haken bei WhatsApp und einer Menge Enttäuschung.
Dennoch ist von Demotivation nichts zu spüren – nicht zuletzt, weil Niggsen einen ganz klaren Fahrplan vor Augen hat: „Ich habe extrem Bock, das zu meinem Job zu machen. Ich habe mir gesagt: Bis ich 25 bin, gebe ich bei der Musik wirklich Vollgas. Ich bin jetzt 21 und auch gerade erst geworden, also habe ich noch Zeit.“ Solange will er sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Auf die Szene in Magdeburg etwa, die im Vergleich zu anderen Städten extrem viel zu bieten hat, sagt er. Auch untereinander hätten die Künstler viel Liebe füreinander. „Jeder teilt mit jedem. Es ist nicht so, dass jeder sein eigenes Ding macht.“ Trotzdem sei ein gewisses Konkurrenzdenken vorhanden, erklärt er. Das habe man etwa daran gesehen, dass ein geplanter Allstar-Track mit Magdeburger Rappern seines guten Freundes und Produzenten Nkls39 am Ende nicht zustande kam, weil sich nicht alle Künstler auf eine Zusammenarbeit einlassen wollten. Ein kleines Beispiel dafür, dass auch in einer solidarischen Szene manchmal die eigenen Interessen im Vordergrund stehen.

Dafür funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Niggsen und Nkls39 umso besser. „Er hat mir 2023 ein paar Beats geschickt. Das war alles nur so Boom-Bap. Ich fand Boom-Bap damals aber immer scheiße, ich hatte gar keine Lust darauf. Deswegen habe ich ihn erstmal abgewiesen.“ Wenig später haben die beiden nach einem Liveauftritt von Niggsen nochmal gequatscht. „Da hat er mich so überzeugend gepitcht und gemeint, ich soll mal in sein Studio kommen. Ich habe dann gemerkt, dass das eigentlich gar nicht so schlecht ist, was da rauskommt“, sagt Niggsen heute über die erste Kollaboration. Seitdem arbeiten die beiden regelmäßig zusammen – eine kreative Achse, die sich für beide schnell als Glücksgriff erwiesen hat.
Mittlerweile ist Niggsen mit Nkls und anderen Produzenten wie Rius Reiser oder L4se so gut eingespielt, dass er ihnen bei den Beats für seine Tracks komplett freie Hand lässt. „Das ist auf jeden Fall sehr befreiend“, sagt er, setzt sich auf eine Bank und zündet sich eine Zigarette an. Nach der langen Suche am Anfang unseres Gesprächs tat es am Ende doch das Feuerzeug aus der Tanke. Wenn er sich nicht um Instrumentals, Mastering und so weiter kümmern muss, kann er sich voll auf die Texte konzentrieren, meint er. Die sind stark von seinem eigenen Leben inspiriert: Es geht oft ums Sprühen, um Abende mit seinen Jungs, um das gemeinsame Unterwegssein. Doch zwischen all den Momentaufnahmen tauchen in seinen Songs auch immer wieder linkspolitische Motive auf. „Ich finde es extrem wichtig. Ich bediene mich ja einer Kultur, die schon immer politisch war“, sagt er. Schon bevor er zu rappen anfing, war er in der Graffiti-Szene aktiv. Und die, so betont er, sei eindeutig geprägt: „Da sind alle links – und wenn nicht, dann fliegst du raus.“

Dass er sich für seine Kunst nicht verstellt, ist nicht nur in seinen Texten erkennbar, sondern zeigt sich auch abseits der Musik. Auf Instagram präsentiert er sich regelmäßig erfrischend authentisch. Mal zeigt er beiläufig, wie er mit seinen Freunden im Italien-Urlaub Bierpong spielt, mal dokumentiert er, wie seine Spülmaschine streikt und die Küche unter Wasser setzt. „Du willst am Ende du selbst sein und damit bei den Leuten ankommen und dich nicht immer verstellen. Mittlerweile macht das auch richtig Spaß“, sagt Niggsen.
Der Erfolg gibt ihm recht: Mit seiner letzten EP „Kopfnicker Shit, Vol. 2” hat er gezeigt, dass er nicht nur für wippende Arme und Lacher sorgt, sondern seine Fans auch mit seiner ungefilterten Art berühren kann. In dem Song „Bruder” nimmt er wie gewohnt kein Blatt vor den Mund und gibt Einblick in die Beziehung zu seinem älteren Geschwisterteil. Er erzählt darin, wie sie sich als Kinder oft stritten, dann als Erwachsene verschiedene Lebenswege einschlugen und wie wichtig ihm sein Bruder trotz ihrer Differenzen ist. Ein Song, der so persönlich ist wie kein anderer in Niggsens Diskografie – und einer, der mal wieder ein Geschenk war. „Mein Bruder hat sich einen Song zum Geburtstag gewünscht.“ Zur selben Zeit ist der Rapper dem Protagonisten des Songs wieder etwas nähergekommen, sagt Niggsen. „Ich finde, es ist einfach das, was ich schon immer zu ihm sagen wollte, es aber vielleicht so nicht gesagt habe. Er hat sich super darüber gefreut.“ Obwohl oder vielleicht gerade weil der Song ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, gab es nach der Veröffentlichung ausschließlich positives Feedback. „Ich habe nicht einmal etwas Negatives zu dem Song gehört. Das ist, glaube ich, der Song, zu dem ich das meiste positive Feedback bekommen habe.“
Mit „Bruder” hat Niggsen gezeigt, dass seine Musik nicht nur zum Kopfnicken anregt, sondern auch sehr persönliche Geschichten erzählen kann. Gerade diese Bandbreite ließe sich auf einem Album noch deutlicher ausspielen. Doch für ein solches Projekt sieht er sich bisher noch nicht bereit. Langspieler hätten heute ohnehin nicht mehr den gleichen Stellenwert, erklärt er, zu sehr habe das Streaming die Hörgewohnheiten verändert. Er konzentriert sich deswegen vorerst lieber auf Singles und EPs: nah an seinem Leben, direkt und unverstellt. Auf Songs, die manchmal sogar zu Geburtstagsgeschenken werden.